Präsident Herr Steinecke:

 

Ich danke Herrn Wolpert für seinen Beitrag. ‑ Wir kommen nun zu dem Debattenbeitrag der CDU-Fraktion. Be­vor ich Herrn Scharf das Wort erteile, möchte ich Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums Laucha auf der Tribüne begrüßen. Herzlich willkommen!

 

Herr Scharf, Sie haben das Wort.

 

Herr Scharf (CDU):

 

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das größte Geschenk der jüngeren deutschen Geschichte ist zweifelsohne die vor 20 Jahren gewonnene Einheit Deutschlands.

 

Aus diesem Anlass hat der Ministerpräsident seine heutige Regierungserklärung unter den Titel „Zur Freiheit befreit“ gestellt. Ich möchte hinter diesen Titel ein deut­liches Ausrufezeichen setzen, weil die Freiheit die Grundvoraussetzung dafür ist, auch die Werte der französischen Revolution Gleichheit und Brüderlichkeit erreichen zu können.

 

Ich sehe das Ringen der demokratischen Parteien in die­sem Parlament und in anderen Parlamenten Deutschlands darum, die Nuancen zwischen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit so auszutarieren und so zu setzen, dass ein für alle Menschen optimales Ergebnis herauskommt. Das wird wahrscheinlich auch die Aufgabe der nächsten Jahre und Jahrzehnte sein.

 

Aber ohne Freiheit, meine Damen und Herren, sind die anderen Grundrechte auch verloren.

 

Nach 20 Jahren beginnt die Zeitgeschichte in Geschichte überzugehen. Nach 30 Jahren, so sagen die Histo­riker, ist die Quellenlage wissenschaftlich gesehen am besten, weil in der Regel alle Archive offen sind, es noch genügend Zeitzeugen gibt und ‑ das ist wahrscheinlich auch wichtig ‑ die damals Handelnden in der Regel nicht mehr die momentan aktiv Handelnden sind, was die Geschichtsschreibung gelegentlich behindern könnte.

 

Meine Damen und Herren! So gesehen, befinden wir uns 20 Jahre nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit in einer Zwischenzeit ‑ so möchte ich es einmal nennen. Die meisten Kolleginnen und Kollegen in diesem Saal haben noch aktive Erinnerung daran oder waren sogar entscheidend an der friedlichen Revolution vor 20 Jahren beteiligt. Aber ‑ das haben einige Reden deutlich gemacht ‑ sind denn unsere Erinnerungen immer so zutreffend, wie wir meinen? Verführt uns nicht unser jeweiliger Gedächtnisoptimismus dazu, den Blick zurück und die Wertung der damaligen Hoffnungen und Erwartungen selbstgerecht zu filtern?

 

Meine Damen und Herren! Deshalb ist die Erinnerungsarbeit kein leichtes Geschäft; denn jeder hat seine eigenen Erinnerungen und Wahrnehmungen. Doch in einem Punkt dürften alle hier in diesem Hause übereinstimmen: Im Herbst 1989 haben nicht Diktatoren und ihre Mitläufer die Geschichte geschrieben, sondern die Bürger Ostdeutschlands selbst.

 

Das war ein einmaliger Vorgang in der Geschichte Deutschlands. Menschen haben sich mit dem Ruf „Wir sind das Volk!“ zum Souverän gemacht, ohne einen Bürgerkrieg zu verursachen. Und sie haben mit dem Ruf „Wir sind ein Volk!“ die deutsche Einheit endgültig besiegelt.

 

An vielen Orten wird an die damaligen Ereignisse erinnert. Wenige Meter von hier entfernt steht ein Magdeburger Bürgerdenkmal für ganz Sachsen-Anhalt, das an die Zivilcourage, an die Gewaltlosigkeit angesichts der Bedrohung durch die bewaffnete Staatsmacht und an den Willen erinnert, sich aus der staatlichen Bevormundung zu befreien und zu einer gesellschaftlichen Erneuerung zu finden.

 

Meine Damen und Herren! Gab es denn Vorboten der friedlichen Revolution und des Mauerfalls? ‑ Als einen der Höhepunkte möchte ich im Nachhinein ‑ er ist durch­aus als einer der Vorboten zu bezeichnen ‑ erkennen, dass es eine wachsende Zahl von Ausreisewilligen, aber auch von gegen ihren Willen Ausgebürgerten gab. Da ist die Zensur der Medien, die wir uns in Erinnerung rufen müssen, und der zunehmend heftigere Widerstand gegen die Militarisierung der ganzen Gesellschaft, die schon im Kindergarten begann.

 

Oder, meine Damen und Herren, es war ganz einfach die Situation in den meisten volkseigenen Betrieben, in denen die Kolleginnen und Kollegen bei ihrer täglichen Arbeit immer mehr spürten, dass das staatliche System der Planung und Lenkung der Volkswirtschaft immer schlechter funktionierte und dass Löcher in den Bilanzen durch das Aufreißen noch größerer Löcher gestopft wurden.

 

Meine Damen und Herren! Es gab offensichtlich unterschiedliche Erinnerungen an die letzten Jahre der untergegangenen DDR. Lassen Sie mich deshalb zwei kurze Zitate aus einem Buch vortragen, das dieser Tage unter dem Titel „Knüppel, Kerzen, Dialog ‑ Die friedliche Revolution 1989/90 im Bezirk Magdeburg“ erschienen ist.

 

Als Erstes möchte ich auf einen Brief des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Magdeburg Siegfried Grünwald ‑ er ist heutzutage ein fröhlicher Rentner in Magdeburg ‑ an Professor Dr. Klaus Thielemann, Minister für Gesund­heitswesen der DDR, zu sprechen kommen. Danach hatten in 161 Apotheken des Bezirkes 1 798 Rezepte, das heißt 10 % aller Medikamentenrezepte, darunter jedoch keine für lebensbedrohliche Erkrankungen, nicht eingelöst werden können, da die entsprechenden Medikamente nicht vorhanden waren. 5 889 Rezepte konnten nur teilweise eingelöst werden.

 

Meine Frau hat damals in einer Apotheke gearbeitet. Ich kann mich noch an viele Gespräche am Abendbrottisch erinnern. Ich weiß also, wie es die Menschen gequält hat, dass die meisten nicht wussten, ob ihr Medikament, wenn sie wieder zur Apotheke bestellt worden sind, dann wirklich da war. Meistens haben es die Leute durch Organisationstalent hinbekommen. Aber man sollte sich schon an die ständige Angst erinnern, die man heute nicht mehr kennt, wenn man zur Apotheke geht.

 

Am 19. Oktober 1989, einen Tag nach dem Sturz Ho­neckers, tagte der Ministerrat und thematisierte die Lage.

 

„Wir lösen nur Einzelprobleme,“

 

‑ erklärte der damalige Minister für Gesundheitswesen vor seinen Kollegen ‑

 

„aber verändern die Lage nicht grundsätzlich. Große Probleme haben wir bei der Bausubstanz. Vor allem die Pflege- und Altenheime befinden sich in einer katastrophalen Lage. Auch die Kreis­krankenhäuser ‑ rund 300 ‑ sind in einer solchen Situation. Große Sorgen bereiten die wachsenden NSW-Importabhängigkeiten auf dem Gebiet der Medizintechnik.

 

Die Lage ist gravierend schlechter geworden. Dass wir zu den zehn größten Industrieländern gehören, zeigt sich in diesem Bereich nicht. Die Lebenserwartung in diesem Land ist zurückge­blieben. Sie entspricht nicht der eines hoch ent­wickelten Industrielandes.“

 

So der damalige Gesundheitsminister. ‑ Meine Damen und Herren! Ich habe dieser Tage in einer Studie des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung Rostock gelesen: Im Osten ist seit der Einheit Deutschlands die Lebenserwartung um ca. sechs Jahre gestiegen.

 

So viel, meine Damen und Herren, zu dem Kapitel persönliche Erinnerungen, Prägungen und auch Einschätzungen in dem Sachsen-Anhalt-Monitor ‑ darüber muss man sich im Klaren sein ‑ und zu dem, was jetzt die objektivierende Geschichtsschreibung an Tatsachen auf den Tisch bringt. Ich habe vorhin gesagt: Erinnerungs­arbeit ist ein schweres Geschäft. Das gilt für jeden Einzelnen in diesem Parlament, aber wahrscheinlich auch für viele Bürgerinnen und Bürger, die nicht Mitglied dieses Parlaments sind.

 

Jetzt meine Frage: Gab es denn auch in gesellschaftspolitischer Hinsicht Vorboten der friedlichen Revolution? ‑ Ich meine, ja. Ich habe schon einmal daran erinnert und möchte es an dieser Stelle wiederholen: Für mich gehört die ökumenische Versammlung für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung zu den Vor­boten dieser friedlichen Revolution und des Mauerfalls, obwohl sich viele Delegierte, auch ich selber, damals natürlich nicht so verstanden haben.

 

Aber wir beobachten oft, dass die Akteure geschicht­licher Ereignisse erst im Nachhinein interpretieren können, wie sich die Ereignisse ‑ ich will es einmal so sagen ‑ Bahn gebrochen haben und in welchem geschichtlichen Gesamtzusammenhang sie gestanden haben. Das erkennt man in der Situation meistens nicht.

Aber damals haben die Kirchen ‑ es waren übrigens 19 ‑ sich gegenseitig auf zwei Versammlungen verpflichtet, unter dem Motto „Eine Hoffnung lernt gehen“ nach einem gerechten Weg für unsere Gesellschaft zu suchen. Sie haben auch versucht, weit über den kirchlichen Raum hinaus durch vielerlei Gesprächsforen weite Teile der Gesellschaft in diese Suche nach einer gerechten und friedlichen Gesellschaft einzubeziehen.

 

Die Menschen überwanden ihre Angst. Sie überwanden mehr und mehr ihren Kleinmut, dass sie vielleicht doch zu wenige sein könnten und dass sie letztlich vielleicht doch nichts ausrichten könnten. Sie erlebten die Konkretion des Weltauftrags der Kirchen, wie es nicht oft nicht geschieht, meine Damen und Herren.

 

Deshalb sind die damals gewonnenen Einsichten kluger­weise als vorläufige Einsichten formuliert worden. Heute sind sie natürlich historische Dokumente. Wir würden sie nie zu politischen Programmen erheben wollen. Aber dass damals ernsthaft nach einer Alternative zu dieser Gesellschaft gesucht worden ist, das, so denke ich, bleibt in der Nachschau nach meiner Auffassung eine der hervorragenden historischen Vorläufergeschichten, die zur friedlichen Revolution dazugehören, meine Damen und Herren.

 

Wir finden übrigens, wenn wir uns unsere Dokumente genauer anschauen, Begriffe wie Nachhaltigkeit, Evolution und friedliche Entwicklung. Viele dieser Formulierun­gen finden sich in einem ganz anderen Vokabular in Do­kumenten, die schon vor zehn, 20, 30 Jahren geschrie­ben wurden. Man muss nur, wenn man Geschichte ein Stück weit lesen will, in der Lage sein, diese Vokabeln zu transponieren und in unseren heutigen Sprachgebrauch zu übersetzen.

 

Übrigens ist eines wichtig ‑ das darf nie vergessen werden ‑: Die Menschen, die sich damals darin einig waren, dass die Gesellschaft, die sie erleben mussten, abgeschafft werden sollte, fanden sich hinterher, als die Gesellschaft abgeschafft war, in sehr unterschiedlichen politischen Gruppierungen wieder. Sie streiten sich heute herzhaft und manchmal sogar heftig darüber, welcher Weg denn nun heute der richtige für eine solidarische und gerechte Gesellschaft ist.

 

Aber ich glaube, das ist in gewisser Weise gar nicht ver­wunderlich und auch gar nicht schlimm, so lange wir alle in dem demokratischen Spannungsbogen bleiben und uns gegenseitig dazu verpflichten zu untersuchen, wie denn die drei Grundwerte Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit richtig gegeneinander abgewogen werden, und was heute und jetzt notwendig ist, um diese ursprünglichen Werte der französischen Revolution umsetzen zu können, meine Damen und Herren.

 

Nun ist die Erinnerung an die Geschichte auch deshalb durchaus interessant und manchmal kompliziert, weil man den Eindruck hat, dass die Geschichte ja nicht gleichmäßig fließt. Wir haben weite Zeiträume, von denen man meint, es passiere so gut wie nichts. Dann haben wir Verdichtungszeiträume, in denen man kaum hinterherkommt, weil die Tage so voll von Ereignissen sind.

 

Diese Erfahrung haben schon die Menschen vor einigen Jahrzehnten gemacht. So kann man das bei Hegel finden. Hegel definierte die Zeit als eine Knotenlinie von Maßverhältnissen. Das heißt, die Zeit fließt nicht gleichmäßig dahin. Ich glaube, dass 1989/90 fast alle die Empfindung hatten, dass wir uns damals in einem so genannten Zeitknoten befanden, der sich von Tag zu Tag spürbar verdichtete und sich letztlich unvergesslich in unser Gedächtnis eingeprägt hat.

 

Der Ruf „Wir sind das Volk!“ brachte die sozialistische Diktatur zum Wanken. Die beabsichtigte oder durch eine verunglückte Pressekonferenz unbeabsichtigt veranlasste Maueröffnung am 9. November machte auf alle Fälle irreversibel den Weg für die deutsche Wiedervereinigung frei. Der Ruf „Wir sind ein Volk!“ konnte in den Folge­monaten erfolgreich international verhandelt und schließ­lich mit dem Einigungsvertrag auch national umgesetzt werden.

 

Meine Worte, meine Damen und Herren, können heute nur unzureichend beschreiben, welch glückliche Stunde Deutschland damals schlug.

 

Weil unser Sprachvermögen unvollkommen ist, ist es umso wichtiger, dass es bis heute schon eine beträcht­liche Anzahl von guten Büchern, Dokumentationen und Filmen gibt, die erschienen sind oder in diesen Tagen noch erscheinen werden und die an diesen Herbst erinnern; denn wir müssen immer bedenken: Die eigene Erinnerung ist unvollständig; sie muss in das geläuterte kulturelle Gedächtnis eingebettet werden. Wir müssen auch bedenken: Für Menschen, die jünger als 30 Jahre sind, sind diese Ereignisse wahrscheinlich einfach Geschichte.

 

Deshalb ist es für die Zukunft unseres Volkes wichtig, wie diese Geschichte geschrieben wird, weil die Erfahrungsgeneration immer älter wird und irgendwann als Erfahrungsgeneration herausgewachsen sein wird.

 

Damit, meine Damen und Herren, bin ich schon beim Heute und bei dem Versuch, ein Stückchen in die Zukunft zu schauen, so gefährlich das auch ist. Ich will aber auch einige Aspekte des Sachsen-Anhalt-Monitors 2009 herausgreifen, zitieren und vielleicht auch interpretieren.

 

Der Sachsen-Anhalt-Monitor 2009 hat versucht, Werte und politisches Bewusstsein 20 Jahre nach dem Systemumbruch zu erfragen. Werteorientierungen spiegeln 20 Jahre nach dem Mauerfall die Einstellung der Sachsen-Anhalter zu ihrem Leben wider. Empiriker gegen da­von aus, dass sich Wertorientierungen durch eine hohe Stabilität auszeichnen, das heißt, sie bleiben in der Regel ein Leben lang erhalten. Den Sachsen-Anhaltern sind private Wertorientierungen am wichtigsten. Darin unterscheiden sie sich wahrscheinlich nicht von anderen Menschen.

 

Interessant ist: Während der Stolz auf die Geschichte noch im Jahr 1997 als eher unwichtig wahrgenommen wurde, sind sich die Sachsen-Anhalter im Jahr 2009 einig, dass dieser Wert als eher wichtig einzustufen ist. Sechs von zehn Menschen in Sachsen-Anhalt interessieren sich stark oder sehr stark für die Politik. Und jetzt werte ich etwas anders als meine Vorredner: Dieses korreliert in etwa mit den Wahlbeteiligungen, die wir erreichen. Das heißt auf der anderen Seite aber auch ganz nüchtern, dass wir Politiker ca. 40 % der Menschen  kaum erreichen, was uns immer wieder zu denken geben muss. Aber diese Grenze ist wohl so einfach auch nicht zu überschreiten.

 

Nach wie vor ist die große Mehrheit der Sachsen-Anhal­ter, das heißt 79 %, davon überzeugt, dass die Demokratie die beste aller denkbaren Staatsideen ist. 89 % meinen, dass die Achtung vor Andersdenkenden und anderen Lebensweisen essenziell für die lebendige Demokratie sei. So viel zu den Gefahren des Extremismus: Einer Diktatur würden selbst in Notzeiten nur 15 % den Vorzug geben.

 

Die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie ist seit dem Jahr 2007 gewachsen, auch wenn das Vertrauen zu uns im Parlament nicht gerade gewachsen ist. Jeder zweite Befragte äußert sich mit der Art und Weise, wie Demokratie im Großen und Ganzen funktioniert, „sehr zufrieden“ bzw. „ziemlich zufrieden“.

 

Die Leute erwarten auch nicht alles vom Staat. Für bestimmte Regelungsbereiche, von denen sie meinen, dass der Staat keine unmittelbare Verantwortung trägt, vertrauen sie mehr auf ihre eigene Kraft. Ich glaube, dieses ist zu stärken. Der Ministerpräsident hat in seinen Ausführungen noch einmal ganz deutlich gesagt: Wir brauchen auch den Mut zu mehr Eigenverantwortung, wir brauchen den Mut zu mehr Eigenvorsorge, wir brauchen den Mut zu mehr Selbständigkeit.

 

Der Staat muss dort helfen, wo der Einzelne überfordert ist. Aber der Staat kann auch zu viel tun und die Menschen vielleicht sogar ungewollt in die Unmündigkeit führen, meine Damen und Herren.

 

Es ist interessant, dass nach wie vor bestimmte Vorzüge der DDR zugeordnet werden: Das Leben in ihr wird als sozialer, gegen Lebensrisiken besser abgesichert und die zwischenmenschlichen Beziehungen werden als verträglicher betrachtet. Aber insgesamt gibt es mit wachsendem zeitlichem Abstand keine zunehmende Verklärung der DDR, wie wir sie in unseren Diskussionen untereinander manchmal befürchten.

 

Für 22 % der Sachsen-Anhalter war die DDR „ganz eindeutig“ ein Unrechtsstaat, für 30 % „eher“ ein Unrechtsstaat.

 

72 % glauben aber auch, der Sozialismus sei eine gute Idee, die nur schlecht ausgeführt worden sei. Das gibt mir natürlich zu denken, und nun komme ich wieder einmal zur Geschichtsschreibung.

 

Zum Glück, meine Damen und Herren, zeigt sich nach dem Öffnen bisher verschlossener Archive, dass hierüber ein Stückchen Aufklärungsarbeit gemacht werden muss. Denn schon den so genannten Klassikern des Marxismus-Leninismus waren nach meiner Auffassung Menschenrechte und Demokratie fremd. So weist die Historikerin Catherine Merridale nach, dass zuerst Lenin Massenmorde als Mittel der bolschewistischen Revolu­tion angeordnet hat, nicht Stalin, sondern Lenin. In einem Brief an Molotow, der erst aufgrund von Gorbatschows Glasnost ‑ also „Wahrheit“ ‑ veröffentlicht wurde, schrieb Lenin:

 

„Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass wir gegen die Geistlichen einen entscheidenden und gnadenlosen Krieg führen müssen. Wir müssen ihren Widerstand mit so viel Grausamkeit brechen, dass sie dies mehrere Jahrzehnte lang nicht vergessen werden. Je mehr Geistliche wir erschießen können, desto besser.“

 

Originalzitat Lenin. ‑ Wer so etwas an einen Mitkämpfer, an Molotow schreibt, dem spreche ich ab, dass er eine humanitäre, neue und gerechte Gesellschaft schaffen möchte, meine Damen und Herren.

 

Herr Gallert, Sie sollten noch einmal darüber nachdenken, ob die Beschreibung der DDR-Wirklichkeit als Abwesenheit von Freiheit nicht zu schwach ist.

 

Darüber sollten Sie noch einmal nachdenken. Ich befürchte, mit diesem Vokabular unterliegen Sie einem Geschichtsrelativismus. Wenn Sie ‑ für meine Begriffe nicht zum ersten Mal, aber erstaunlicherweise ‑ behauptet haben, es gebe in der Geschichtsschreibung keine Wahrheiten, man könne die Geschichte so oder so sehen, meine ich, es gibt Dokumente, wie zum Beispiel diesen Brief, den ich nicht anders zu interpretieren wüsste.

 

Aber letztlich war ja Lenin kein dummer Mensch. Ich vermute, die eigentliche Hybris liegt darin, dass auch er dem Irrtum unterlegen war, es gäbe ein Recht, den neuen Menschen mit allen Mitteln, zur Not auch mit Gewalt schaffen zu wollen und zu dürfen. Aber diese Grenze darf keiner überschreiten.

 

Wenn wir mit unseren Argumenten die Menschen nicht erreichen ‑ jeder Politiker wird sich wahrscheinlich oft darüber ärgern, warum die Leute das nicht kapieren, was man selber so klasse findet ‑, haben wir leider kein anderes Mittel als unser Wort, und wir dürfen auch nicht eine Sekunde lang in den Gedanken verfallen, man dürfte und könnte andere Mittel verwenden.

 

Ich glaube, das unterscheidet eindeutig die Diktatur von der Demokratie. Wir sind in dem Sinne schwach, als wir auf unser Wort angewiesen sind. Deshalb müssen wir dieses auch, so lange es irgend geht, vernünftig und verantwortungsvoll verwenden, meine Damen und Herren.

 

Erfreulich ist, dass der Sachsen-Anhalt-Monitor 2009 darstellt, dass 77 % der Bevölkerung den Mauerfall als ein freudiges Ereignis begreifen. Deshalb, denke ich, dürfen wir uns alle in Sachsen-Anhalt mit der gesamten Bevölkerung in Deutschland und darüber hinaus freuen, meine Damen und Herren.

 

Deutschland ist bisher gut zusammengewachsen und wird weiter zusammenwachsen. Was wir heute diskutieren, ist für die 14- bis 19-Jährigen ziemlich unverständlich. Die Gesellschaft für Konsumforschung ermittelte, dass für 80 % dieser Personengruppe die Herkunft keine Rolle mehr spielt.

 

Aus einer aktuellen Studie der Konrad-Adenauer-Stif­tung über das Geschichtsbild der Deutschen 20 Jahre nach dem Fall der Mauer wird deutlich: Je jünger die Menschen im Jahr 1989 waren, umso weniger erklären sie sich heute überrascht vom Fall der Mauer. Die jüngeren Befragten halten den Fall der Mauer eher für selbstverständlich. Im Rückblick scheint der Verlauf der Geschichte verstärkt als eine logische und stringente Entwicklung interpretiert werden zu können. Daher urteilt der Theologe Richard Schröder in seiner vor wenigen Tagen vor dem Landkreistag verbreiteten Rede zu Recht: „Die deutsche Einheit ist besser als ihr Ruf.“

 

Da ich schon beim Zitieren bin, lassen Sie mich auch einen katholischen Pfarrer im Ruhestand aus Magdeburg zitieren, der für meine Begriffe, weil er die Menschen kennt, sehr schön formuliert hat:

 

„Viele haben es vergessen oder wussten es von Anfang an nicht klar, was das Volk vor 20 Jahren wirklich erkämpfen wollte und konnte: Die Freiheit, aber nicht das Schlaraffenland! Einen Rechtsstaat, aber nicht völlige Gerechtigkeit! Ein besseres System, aber nicht bessere Menschen!“

 

Deshalb: Auch wenn 20 Jahre nach dem politischen Um­bruch unsere Bürgergesellschaft keine vollends gerechte und schon längst keine vollkommene Gesellschaft geworden ist, haben doch die Menschen die Möglichkeit gewonnen, einen freien Meinungsaustausch zu pflegen, frei zu handeln und zu wählen, zu urteilen und zu vergleichen.

 

Die Freiheit ist die Chance des Handelns, noch nicht das Handeln selbst. Wir versprechen, die Chancen zu wahren, nicht die Ergebnisse.

 

Wenn wir zu dieser Freiheit befreit sind, Entscheidungen treffen zu können, wird es auch immer wieder Entscheidungen geben, die dem Ideal nur sehr unvollkommen oder nur näherungsweise entsprechen. Darüber war sich schon Immanuel Kant im Klaren, als er formulierte:

 

„Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.“

 

Nehmen wir, meine Damen und Herren, also die Herausforderungen an, zur Freiheit befreit zu sein, um die besten Lösungen auch in diesem Hause zu ringen und Entscheidungen zum Wohle unseres Volkes treffen zu können, wie wir dazu fähig sind. ‑ Vielen Dank.

 

Präsident Herr Steinecke:

 

Vielen Dank für Ihren Beitrag, Herr Scharf. ‑ Es gibt noch eine Wortmeldung von Herrn Gallert.

 

Herr Gallert (DIE LINKE):

 

Es ist sozusagen eine Endintervention. Ich habe mich gemeldet, als Herr Scharf den Brief von Lenin zitiert hat. Ich kann Sie beruhigen, Herr Scharf, wir brauchten, was die Staatstheorie von Lenin betrifft, nicht erst die Öffnung der Archive, um zu wissen, dass er systematisch im Grunde genommen die Strukturen angelegt hat, die Stalin für seine Verbrechen gebraucht hat. Deswegen werden Sie auch bei uns niemanden finden, der sich explizit auf seine Staatstheorie bezieht.

 

Ich möchte Ihnen gleich noch eine andere Frage beantworten. Ich habe sehr lange und mit vielen Leuten darüber nachgedacht, ob es ausreichend ist, die DDR als Staat zu bezeichnen, der durch die Abwesenheit von Freiheit gekennzeichnet war. Ich sage es Ihnen noch einmal ‑ ich habe es Ihnen vor kurzem auch gesagt ‑ Objektiv kann an einer Geschichtsbetrachtung das Feststellen von Fakten sein. Aber Sie selbst haben gesagt, wir müssten einmal überlegen, ob das nicht zu schwach sei. Nun hat der Kollege Lenin diesen Brief nicht an Erich Honecker geschrieben. Insofern wollen wir ihn nicht auf die DDR beziehen.

 

Ich sage es noch einmal ausdrücklich: An dieser Stelle wird man nicht objektiv werden können, weil es eine Bewertung ist, ob diese Aussage zu schwach ist oder nicht. Ich sage ausdrücklich: Nein, an dieser Stelle ist eine Geschichtsbewertung nicht objektivierbar und nicht verbindlich machbar.