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Sachsen-Anhalt/Ostdeutschland im innereuropäischen Vergleich

 

Sachsen-Anhalt ist eine Kernregion Europas und wird doch leider viel zu wenig und viel zu selten so positiv wahrgenommen, wie es dieses kleine Land verdient hätte. Schon ein kurzer Blick in die Geschichte bringt Schätze hervor, deren sich viele Menschen auch in Sachsen-Anhalt nur wenig bewusst sind.

 

Spuren der Besiedlungsgeschichte weisen weit in die Vorzeit zurück. Im Frühmittelalter wurde das Gebiet von Thüringern, Sachsen und Franken – im Osten auch von Slawen – be­siedelt. Spätestens ab 804 war dieses Gebiet fest in das fränkische Reich eingegliedert. Otto der I., der Große, wurde 912 in Memleben geboren. 962 ließ er sich in Rom zum Kaiser krö­nen. Damit war die Kaiserwürde an das deutsche Regnum, das spätere heilige römische Reich, gebunden. Mit diesem Datum trat die jetzige Region Sachsen-Anhalt in die euro­päische Geschichte ein. Otto wurde im Magdeburger Dom beigesetzt. Sachsen-Anhalt ist ein dermaßen reiches Land an Burgen, Schlössern, Klostern und Kirchen, dass es schwer fällt, dieses reiche Erbe zu bewahren, zu erhalten und zu entwickeln.

 

Es gibt ein weiteres geschichtliches Ereignis, mit dem diese Region in die europäische Ge­schichte prägend eintrat: die Reformation. Nachdem verschiedene Forderungen nach einer Kirchenreform erfolglos blieben, löste Martin Luther 1517 mit seinem Thesenanschlag an die Schlosskirche in Wittenberg (der allerdings historisch nicht belegt ist) eine Reformbewegung aus, die zur Bildung der protestantischen Kirchen führte. Sachsen-Anhalt ist somit auch Kernland der Reformation. Freilich musste dieser herausgehobene geschichtliche Platz zum Teil teuer bezahlt werden. So wurde Magdeburg 1631 im 30jährigen Krieg durch die Truppen Tillis fast vollständig zerstört.

 

Die Geschichte des Landes Sachsen-Anhalt ist aber auch bedeutende Industriegeschichte.

 

Der Zuckerrübenanbau auf fruchtbaren, schweren Böden verband sich mit der aufkommenden Nahrungsmittelindustrie zu bedeutenden Städten der Industrieagrargeschichte. Diese Industrieagrargeschichte kann durchaus als Vorläufer zum einen des Maschinen- und Schwermaschinenbaus, zum anderen aber auch der chemischen Industrie gewertet werden. Und so finden wir ab dem Ausgang des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Welt­krieges – und mit Abstrichen auch darüber hinaus – Mitteldeutschland als Kern der Industrie­geschichte Deutschlands. Selbst die Flugzeugindustrie hatte mit den Hugo-Junkers-Werken in Dessau hier ihre Heimstatt.

 

Wo sich Industriegeschichte und Ideengeschichte miteinander verbanden, konnte es natürlich nicht ausbleiben, dass bedeutende Stätten der Forschung entstanden. Hier sei insbesondere die 1694 gestiftete und 1817 mit der Universität Wittenberg vereinigte Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg genannt. Auch die Deutsche Akademie der Naturforscher „Leopoldina“ hat in Halle ihren Sitz.

 

 

 

Doch zurück zum Land Sachsen-Anhalt selbst. Es krankt bis heute daran, als Bindestrichland nur eine schwache eigene Identität ausgebildet zu haben. Nach dem Wiener Kongress (1815) wurde 1816 die preußische Provinz Sachsen mit der Hauptstadt Magdeburg gebildet. Nach dem zweiten Weltkrieg bildete die sowjetische Militäradministration aus den Provinzen Mag­deburg und Halle-Merseburg, dem Freistaat Anhalt und Teilen des ehemaligen Landes Braun­schweig die Provinz Sachsen, ab 1946 Provinz Sachsen-Anhalt genannt. Mit der Verab­schiedung der Landesverfassung (1947) erhielt die Provinz den Status eines Landes mit der Hauptstadt Halle/Saale. Am 25. 7. 1952 wurde Sachsen-Anhalt in die DDR-Bezirke Halle und Magdeburg aufgelöst. Mit dem Ländereinführungsgesetz wurden im Oktober 1990 Sachsen-Anhalt aus den Bezirken Halle und Magdeburg und dem ehemaligen Kreis Jessen wieder her­gestellt (Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG 1999). Es schmerzt mich immer wieder, dass selbst in Nachrichtensendungen des „Heute-Journals“ und bei der „Tagesschau“ Sachsen-Anhalt mit Sachsen verwechselt wird und einfach von Sachsen gesprochen wird. Da stellt sich sogleich die Frage nach der sachsen-anhaltischen Identität und nach der Verortung dieses Bundeslandes im vereinten Europa.

 

Es gibt immer wieder die Diskussion, Sachsen-Anhalt aufzulösen. Dieses ist jedoch eine un­realistische Option. Mit der Überwindung der zentralistischen Aufteilung der ehemaligen DDR in Bezirke konnten landsmannschaftliche Gefühle und Bindungen erstmals wieder ihre Berücksichtigung finden. Damit war die Länderneubildung 1990 weit mehr als ein admi­nistrativer Schritt. Länderneugliederungen auf Grundlage des Grundgesetzes hat es in Deutschland nie gegeben (der Zusammenschluss von Nord-Württemberg, Baden und Baden-Hohenzollern erfolgte auf anderer rechtlicher Grundlage). Wenn selbst der nach meiner Ansicht sinnvolle Zusammenschluss von Brandenburg und Berlin scheiterte, sollte niemand einem fiktiven Länderneugliederungsgedanken nachhängen, sondern im sogenannten MDR-Gebiet - Gebiet des Mitteldeutschen Rundfunks der Länder Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen - sollten Kooperationsbeziehungen gefördert werden, ohne die Aufgabe der Eigenständigkeit der einzelnen Länder zu betreiben.

 

Welchen Weg wird das vereinte Europa beschreiten? Welchen Platz kann Sachsen-Anhalt darin finden?

 

Die Europäische Union wird ihre Integration vertiefen, ihre territoriale Ausdehnung ver­größern. Strukturen und Kompetenzen der EU unterziehen sich einem Wandel. Zu den Maß­nahmen der Zentralisation der Organisation gehören u. a. die Bestimmung einer Obergrenze für die Zahl der Mitglieder der Europäischen Kommission, die Neuordnung der Stimm­gewichtung im Rat – wahrscheinlich im Sinne einer doppelten Mehrheit, bei der die Mehrheit der Mitgliedstaaten auch die Mehrheit der EU-Bevölkerung repräsentieren muss, die Bestim­mung eines Kataloges, der mit qualifizierter Mehrheit im Rat entschieden werden darf und die Mitentscheidungsrechte des Europäischen Parlamentes. Die Zentralisation wird aber nur Ak­zeptanz gewinnen, wenn die regionalen Anliegen thematisiert und ausreichend berücksichtigt werden. Hierzu gehören u. a. die Stärkung des Ausschusses der Regionen und gegebenenfalls ein Klagerecht vor dem Europäischen Gerichtshof für Regionen mit eigener Gesetzgebungs­kompetenz. Erregte die Europapolitik des Landes Sachsen-Anhalts bisher kaum öffentliches Interesse, so muss und wird sich dieses in den nächsten Jahren deutlich ändern, insbesondere im Zusammenhang mit der Einführung des EURO im Jahr 2003. Freilich sind die Entscheidungsfindungsmechanismen in Sachsen-Anhalt selber darauf bisher wenig vorbe­reitet. Die Europapolitik wird weitgehend von der Staatskanzlei aus betrieben. Das Parlament wird zwar informiert, auch ist ein Abgeordneter des Landtages von Sachsen-Anhalt Mitglied im Ausschuss der Regionen, doch im praktischen Alltag läuft die Informationstätigkeit der Landesregierung so schleppend, dass das Parlament selber europapolitischen Entscheidungen regelmäßig mehrere Monate hinterherhinkt und oft so spät eingeschaltet wird, dass eine prak­tische Einflussnahme nicht mehr möglich ist.

 

Der Präsident des Landtages von Sachsen-Anhalt hat in seinen Vorschlägen für eine Parla­mentsreform dieses Defizit aufgegriffen, und es bleibt zu hoffen, dass die Fraktionen sich in absehbarer Zeit auf eine Stärkung der Informations- und Mitbestimmungsrechte in euro­päischen Angelegenheiten einigen werden.

 

Nachfolgend seien einige Themenfelder angerissen, die für die Integration und die Stellung Sachsen-Anhalts in Europa wichtig sind oder wichtig sein werden.

 

Sachsen-Anhalt hat eine verkehrlich äußerst günstige Lage, aus der Potentiale für eine euro­päische Verflechtung entwickelt werden können. Wichtige Nord-Süd und Ost-West-Eisen­bahnverbindungen queren dieses Land. Die zukünftige Verkehrsachse Paris-Ruhrgebiet-Ber­lin-Moskau läuft durch Sachsen-Anhalt. Die Binnenschiffahrt ist über Elbe-Saale-Mittelland- und Elbe-Havel-Kanal sowohl mit dem Ruhrgebiet als auch mit Berlin verbunden. Der größte Binnenhafen außerhalb des Ruhrgebietes befindet sich in Magdeburg. Lediglich ein schlüs­siges Luftverkehrskonzept fehlt, um auch dieses Potential sicher entfalten zu können. Das Raumordnungsverfahren um ein internationales Luftdrehkreuz bei Stendal zeigt, dass unser Land für den internationalen Luftverkehr eine ernste Diskussionsgrundlage bieten kann. Hier liegen Chancen, die nicht verspielt werden dürfen.

 

Aus der Lage Sachsen-Anhalts, im Schnittpunkt wichtiger Verkehrsachsen, können aus der zunehmenden internationalen Verflechtung Entwicklungsmöglichkeiten für Wachstum und Beschäftigung abgeleitet werden, die bisher weitgehend brach liegen.

 

Die mitteldeutsche Industrieregion mit ihrer Lage im heutigen Sachsen-Anhalt war eines der wichtigsten Industriezentren Deutschlands. Im Zweiten Weltkrieg zerstörte Produktionsstätten konnten weitgehend wieder aufgebaut werden. Sachsen-Anhalt blieb eine durch Schwer- und Chemieindustrie geprägte Region. Trotz einer Kapitalvergeudungswirtschaft in der unterge­gangenen DDR und nicht hinzunehmenden Defiziten im Umweltschutz behielt die Industrie­kultur eine hohe Akzeptanz unter der Bevölkerung. Auf diesem Bewusstsein konnte nach der friedlichen Revolution aufgebaut werden, so dass die ehemaligen industriellen Kerne erneut für eine Industrieentwicklung genutzt werden können. Ist es andernorts in Deutschland aufgrund von Vorurteilen schon schwer, neue Chemiebetriebe zu gründen, so ist dies in Sachsen-An­halt durch die Annahme dieser Industrie in der Bevölkerung ohne große Schwierigkeiten möglich.

 

Sachsen-Anhalt ist weiterhin bis 2006 in Europa Ziel-1-Fördergebiet, d. h. der Aufholbedarf gegenüber entwickelten Regionen Europas ist unbestritten, auch wenn gewisse industrielle Zentren, wie z. B. das Industriegebiet Halle-Leipzig, bald die kritische Masse erreicht haben werden, aus der heraus eine wirtschaftliche Eigendynamik ausstrahlt und selber keine strukturelle Hilfe mehr nötig ist.

 

Leider sind die Potentiale dieses Landes in den letzten Jahren nicht ausreichend entwickelt worden, und so hat Sachsen-Anhalt im Vergleich der neuen Bundesländer untereinander (ein Vergleich mit den alten Bundesländern wäre bisher nicht sachgerecht) leider ungenügende Kennziffern aufzuweisen.

 

 

 

Ausgewählte aktuelle Wirtschaftsdaten der neuen Länder (in Prozent)

 

 

 

Arbeitslosen-quote 1

Okt. 2000

Bruttoinlands-produkt 2

1999

Exportquote3

 

1.Hj. 2000

Selbständigen-

quote 4

1999

Investitions-quote (Soll) 5

2000

Brandenburg

15,5

 

1,5

17,5

8,5

24,8

Mecklenburg-

Vorpommern

16,7

1,3

21,7

7,3

22,9

Sachsen

15,9

 

1,7

25,4

8,9

27,5

Sachsen-Anhalt

18,8

0,8

14,1

7,2

23,9

Thüringen

13,9

 

2,0

22,3

7,8

24,6

neue Länder

insgesamt

16,1

1,5

20,2

7,9

24,7

 

 

1 Bezugsbasis: alle zivilen Erwerbspersonen

 

2 Veränderungen gegenüber dem Vorjahr (real)

 

3 Anteil des Auslandumsatzes am Gesamtumsatz (der Unternehmen mit mehr als 20 Beschäftigten)

 

4 Anteil der Selbständigen an den Erwerbstätigen insgesamt

 

5 Anteil der Investitionsausgaben am Gesamthaushalt

 

Für die Zukunft wird jedoch Besserung in Aussicht gestellt. So weist die Staatskanzlei des Landes Sachsen-Anhalt in einem Bericht vom 10. Oktober 2000 auf folgendes hin: „Einer Studie der EU zufolge gehören die neuen Bundesländer zu den Problemregionen der Osterweiterung, weil sie traditionelle Industriestrukturen und geringes wirtschaftliches ,Reaktionspotential’ aufweisen. Von daher ist es besonders wichtig, im Vorfeld der Erweiterung die Arbeitsteilung und Zusammenarbeit mit unseren Partnern im Osten zu vertiefen, an die historisch gewachsenen Beziehungen anzuknüpfen und damit auch unsere Vorteile auf den Ostmärkten zu nutzen.

 

Das dies zunehmend gelingt, beweist die Außenhandelsstatistik des Landes. Nach Zuwächsen bis zu 38 % belegten Polen und Tschechien 1998 die Plätze 6 und 7 in der Ausfuhrstatistik. Der Anteil Osteuropas am Gesamtexport beträgt ca. 24 %. Die Länder des EU-Binnenmarktes und die Beitrittskandidaten Mittel- und Osteuropas bilden sich damit mehr und mehr als Schwerpunktregion des sachsen-anhaltinischen Außenhandels aus. Problematisch ist neben dem absolut zu geringen Niveau des Gesamtaußenhandels der zu hohe Anteil von Halbwaren und Vorerzeugnissen.“

 

 

 

 

Betrachten wir nun die Wissenschaftslandschaft. In den historischen Bemerkungen wurde schon auf die Martin-Luther-Universität und die Leopoldina hingewiesen. Heute besitzt Sachsen-Anhalt zwei Volluniversitäten, eine Kunsthochschule, fünf Fachhochschulen und bedeutende Blaue Liste- und Max-Planck-Institute sowie weitere renommierte Forschungseinrichtungen.

 

Damit verfügt Sachsen-Anhalt über bedeutende wissenschaftliche Institutionen. Jahrhunderte lange Wissenschafts- und Ausbildungstraditionen sind trotz zweier Diktaturen nie ganz abge­rissen. Und so haben Traditionen aus Sachsen-Anhalt für den Kenner der Wissenschafts- und Pädagogikgeschichte einen weltweiten Ruf. Beispielsweise wurde der Sachsenspiegel im 13. Jahrhundert vom sächsischen Ritter Eike von Repgow auf der Burg Falkenstein im Harz verfasst. Auf seiner Grundlage beruhen das Magdeburger Recht und das gemeine Sachsen­recht als bedeutende Rechtsquellen des Mittelalters.

 

Der heilige Adalbert von Prag (997 erlitt er bei den heidnischen Pruzzen, von ihnen wird der Name für die späteren Preußen abgeleitet, den Märtyrertod) erhielt seine Ausbildung im Magdeburger Kloster. Adalbert kann als ein Vorläufer europäischer Integration angesehen werden.

 

Auf die Reformation wurde schon verwiesen. Johann Heinrich Amos war in Halle der erste schwarze Gelehrte an einer deutschen Universität.

 

Überlebten die Naturwissenschaften braune und rote Diktaturen mit mäßigem Schaden, so half bei den Geistes- und Wirtschaftswissenschaften teilweise nur eine Neugründung der ent­sprechenden Fakultäten. Heute ist es den sachsen-anhaltischen Universitäten und Instituten gelungen, bedeutende internationale Wissenschaftler an sich zu ziehen, und so ist mir nicht bange, dass die vom Namen her noch nicht bekannten Einrichtungen in Kürze die Wissen­schaftslandschaft Europas entscheidend mitprägen werden.

 

Viel schwerer wiegt da die Frage, wie viel Wissenschaft soll sich Sachsen-Anhalt leisten? Gingen bisherige Planungen von 44.000 flächenbezogenen Studienplätzen aus, so plant die gegenwärtige Landesregierung zumindest ein Zwischenziel von nur 33.000 Plätzen anzu­streben. Pläne in den Schubladen sollen die Zahl 20.000 enthalten. Gegenwärtig verlassen mehr studienwillige Jugendliche dieses Land als Studenten aus anderen Ländern ein Studium aufnehmen. Zudem verbleibt ein immer geringerer Teil der Hoch- und Fachschulabsolventen in Sachsen-Anhalt. Diese Entwicklung stimmt bedenklich. Die materiellen Studienbedingungen selber lasen ein Anziehen von Studenten von außerhalb als realistisch erscheinen. Die damit verbundenen wissenschaftspolitischen Entscheidungen müssen freilich in Sachsen-Anhalt selbst gefällt werden.

 

Oft wird übersehen, dass Sachsen-Anhalt aus seiner vielfältigen Kirchengeschichte heraus selber identitätsstiftende Beiträge für Europa liefern kann. Kann das Erzbistum Magdeburg als kirch­liches Zentrum für die Gebiete östlich der Elbe seit 968 eine historische Tradition aufweisen, die mit der Neuerrichtung des Bistums 1994 einen bedeutenden neuen Akzent setzte, so sind alle reformatorischen Kirchen untrennbar mit den Luthergedenkstätten verbunden. So bedeutsam die historischen Stätten sind, um so wichtiger ist es jedoch, die entsprechenden geistigen Traditionen für Deutschland und Europa nutzbar zu machen. Die vielfältigen kirchlichen Kontakte stellen schon jetzt einen unschätzbaren Verknüpfungswert dieses Landes mit Europa und darüber hinaus dar. Freilich werden diese Impulse für Pädagogik, Wissenschaft und Alltagskultur noch viel zu wenig genutzt.

 

In Sachsen-Anhalt ist in einem der wenigen vornehmlich protestantisch geprägten Ländern der 6. Januar als Heiliger Dreikönigstag offizieller Feiertag. Für die Herausbildung einer europäischen Kulturnation ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass dieser Feiertag einer der ganz wenigen ist, der in Gesamteuropa – seien die Regionen nun katholisch, protestantisch oder orthodox geprägt – verstanden wird. Sofern können von Sachsen-Anhalt aus auch bisher nicht genutzte Brücken der Verständigung aufgebaut werden.

 

Abschließend sei auf einige demographische Entwicklungen hingewiesen. Die Bevölkerungs­zahlen entwickelten sich auf dem Gebiet des heutigen Sachsen-Anhalt sehr unterschiedlich. Erreichte die Bevölkerungszahl nach den Flüchtlingsströmen infolge des Zweiten Weltkrieges 1945 ihren Höhepunkt, so dezimierten die Fluchtbewegungen bis 19961 kontinuierlich die Einwohnerzahlen. Der allgemeine Geburtenrückgang, der auch durch die familienfördernden Maßnahmen der DDR nicht grundsätzlich beeinflusst werden konnte, setzte sich fort. Nach 1990 gab es einen regelrechten Geburtenknick, der sich jetzt verheerend in geringen Kinder­zahlen bis ins Grundschulalter hinein auswirkt. Von 1990 bis zum Jahr 2000 verringerte sich die Bevölkerung in Sachsen-Anhalt von 2,9 auf 2,6 Mio. Einwohner. Dieser negative Trend ist im Moment durch die Kombination von Geburtenrückgang und Bevölkerungsabwanderung ungebrochen. Falls diese Entwicklung so weiter gehen sollte, ist ein dramatischer Wegzug aus schwach entwickelten Regionen des Landes mit der Folge zu befürchten, dass regionale Wirt­schaftskreisläufe ihre Funktionsfähigkeit verlieren könnten (örtliches Handwerk und Dienst­leistungsgewerbe). Eine verantwortliche Politik muss hier gegensteuern.

 

Demographische Trends sind meist sehr langfristig und hartnäckig und nur schwer zu beeinflussen. Die Menschen selber müssen in genügendem Maß in die Problematik dieser Entwicklung mit hinein genommen werden. Ernst zu nehmende Studien gehen davon aus, dass allein durch die Ursachen generelles Geburtendefizit in ganz Europa, ungleichmäßige wirtschaftliche Entwicklung der Regionen und garantierte Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union große Wanderungsbewegungen in Europa stattfinden werden. Dabei werden sich die Problemanzeigen in Zuwanderungs- und Ausdünnungsgebieten sehr unterschiedlich ausweisen. Überlagert wird diese Entwicklung durch die unbeantwortete Frage, wieviel Zuwanderung aus nichteuropäischen Ländern die in Deutschland ansässige Bevölkerung wünscht. In Deutschland selber wird man sich spätestens ab 2010 zwischen den Alternativen eines drastischen Bevölkerungsrückganges oder einer drastischen Zuwanderung entscheiden müssen. Die Bevölkerung ist auf diese Frage wenig vorbereitet, und so wird es eine entscheidende Aufgabe für alle politischen Verantwortlichen sein, diesen Diskussionsprozess offen, öffentlich und ohne Tabuisierung der unvermeidlichen kulturellen Schwierigkeiten dieses Weges anzustoßen.

 

Die historischen Wurzeln eines Kulturlandes Sachsen-Anhalt mit seinen Traditionen und Tra­ditionsbrüchen, ja sogar Abbrüchen können unter Umständen einen entscheidenden Beitrag zur kulturellen Identitätsfindung Deutschlands und Europas liefern.

 

So gesehen könnte das Bindestrichland Sachsen-Anhalt mit seinem zur Zeit mangelhaften ausgeprägten Selbstbewusstsein, sobald es seinem Selbstwert für die deutsche und euro­päische und auch weltweite Kulturfindung bewusst wird, ein entscheidender Brückenbauer zwischen Menschen und Kulturen sein.