Der 16. November 2022 - (k)ein Tag wie jeder andere (?)
Die Streichung des Buß- und Bettages als staatlich anerkannter Feiertag in Sachsen-Anhalt 1994
Für die übergroße Mehrheit der Menschen in Sachsen-Anhalt wird der 16. November dieses Jahres ein ganz normaler Werktag sein, vermutlich auch für die gerade einmal noch 11,1 Prozent evangelischer Christen (Stand: 31.12.2021) im Ursprungsland der Reformation.
Kein Wunder, schließlich ist es inzwischen auch schon 28 Jahre her, dass der Buß- und Bettag, der in diesem Jahr auf den 16. November fällt, zum letzten Mal staatlich anerkannter Feiertag war.
Ja, der Buß- und Bettag war einst ein staatlich anerkannter Feiertag und als solcher, wie es in Artikel 139 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) heißt, als Tag „der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung“ gesetzlich geschützt.
Inzwischen ist er nur noch im Gesetz über Sonn- und Feiertage im Freistaat Sachsen als gesetzlicher Feiertag aufgeführt.
Die Wochenzeitung DIE ZEIT erinnert in ihrer aktuellen Ausgabe vom 10. November dieses Jahres mit einem ganzseitigen – und sehr lesenswerten – Artikel an die Abschaffung des Buß- und Bettages 1994 als gesetzlicher Feiertag zur Finanzierung der Pflegeversicherung. Dies war ein politischer Kompromiss auf Bundesebene, dessen Umsetzung den Ländern oblag.
Innerhalb eines Vierteljahres wurde die Streichung des Buß- und Bettages im letzten Quartal des Jahres 1994 in Sachsen-Anhalt politisch beschlossen: Ende Oktober 1994 legte die seinerzeitige Landesregierung den Entwurf eines zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Sonn- und Feiertage vor, am 3. November fand die erste parlamentarische Beratung im Landtag statt, am 15. Dezember die zweite.
Im Gesetzentwurf betonte die Landesregierung, dass der Buß- und Bettag seine Eigenschaft als kirchlicher Feiertag nicht einbüßen würde, die in Paragraph 6 des Feiertagesgesetzes eingeräumte Möglichkeit einer Freistellung an religiösen Feiertagen also nicht verlöre. Ja, der Buß- und Bettag würde nunmehr sogar doppelt gesetzlich geschützt werden: Weiterhin in Paragraph 5 („Erhöhter Schutz“) sowie zukünftig auch in Paragraph 4 („Schutz der Gottesdienste“). In seiner – nur zu Protokoll gegebenen – Einbringungsrede erklärte der damalige Innenminister Püchel dann auch: „Der Buß- und Bettag wird durch die Streichung als staatlicher Feiertag also nicht zum normalen Werktag, sondern behält seinen Charakter als religiöser Feiertag.“
Nach grundsätzlich lobenden Worten über die große Bedeutung von Feiertagen, die „weit mehr als sozialer Besitzstand der abhängig Beschäftigten“ wären und zur „kulturellen Tradition unseres Landes“ gehörten, wurde die Streichung des Buß- und Bettages im Redemanuskript des Innenministers wie folgt begründet:
„Politik ist für diese Landesregierung nicht zuletzt Politik für die kleinen Leute. Und für die Arbeitnehmer mit geringem Einkommen ist die Streichung eines Feiertags sicher besser zu verkraften als eine zusätzliche Kürzung des Nettolohns. […] Nach den Festlegungen zur Pflegeversicherung kommen jedoch nur Feiertage in Frage, die immer auf einen Werktag fallen. Davon gibt es nach unserem Feiertagsgesetz nur fünf: Karfreitag, Ostermontag, Pfingstsonntag, Christi Himmelfahrt und Buß- und Bettag. Es handelt sich also um teils sehr hohe religiöse Feiertage, von denen der Buß- und Bettag noch am ehesten verzichtbar scheint. Dafür spricht nicht zuletzt auch die Bundeseinheitlichkeit, denn in nahezu allen anderen Bundesländern ist ebenfalls die Streichung dieses Feiertags vorgesehen.“
Roland Claus von der PDS kritisierte den Pflegekompromiss auf Bundesebene als „Eingriff in die föderalen Rechte und Prinzipien“ und führte weiter aus:
„Nun wird es wohl so kommen, dass der Bußtag fällt. Dabei, finde ich, hätten gerade wir Abgeordnete ihn so nötig. […] Uns wird ja dauernd gesagt, wir sollen Buße tun für 40 Jahre usw., und dann nehmen Sie uns eine der wichtigsten Gelegenheiten dafür. […] In Gottes Namen werden Sie es wohl diesmal nicht tun können, was Sie vorhaben. Was wir wollen, ist ausdrücklich, dass die Suppe, die CDU und SPD hier eingebrockt haben, auch von diesen mit ausgelöffelt wird. Wir wollen also diesem Gesetz nicht zustimmen und würden es nur für den Fall tun, dass der Schaden abzuwenden wäre, der sich jetzt in Sachsen androht. In diesem Falle wären wir für die Schadensbegrenzung.“
Der Christdemokrat Christoph Bergner ergriff anschließend das Wort und wollte „zunächst einmal festhalten, dass die Suppe, um die es hier geht, eine ganz wichtige sozialpolitische Maßnahme ist, um die in der letzten Legislaturperiode des Bundestags hart gerungen worden ist“. Er hielt landespolitischen „Spielraum“ durchaus für möglich, nämlich „dass wir entweder im Landesgesetz einen Werktagsfeiertag streichen oder dass wir darauf verzichten und damit die Umlage auf die Arbeitnehmer vorsehen, so wie es jetzt andernorts auch noch einmal diskutiert wird“.
Der frühere Ministerpräsident erinnerte sich ferner:
„Ich habe in meiner Amtszeit als Ministerpräsident das Gespräch mit den Kirchen geführt. Ich habe damals bereits den Vorschlag, der mir schon Konsens in der Ministerpräsidentenkonferenz zu sein schien, eingebracht, den Vorschlag der Streichung des Buß- und Bettages, der jetzt Gegenstand dieser Gesetzesvorlage der Landesregierung ist. Ich habe damals bei den Vertretern der Kirchen wahrgenommen, dass sie – was mich nicht überrascht hat – keine Zustimmung, aber doch immerhin Tolerierungsbereitschaft signalisierten. Inzwischen hat sich die Diskussion verschärft, wenn ich die offiziellen Verlautbarungen der Kirchen ernst nehme. Ich muss auch sagen, die Argumente der Kirchen sind natürlich nicht leicht von der Hand zu weisen, dass es sich bei einem Feiertag nicht einfach um Freizeit oder um Geldersatz, sondern um eine kulturelle Institution handelt. Deshalb schlage ich vor, dass wir bei der Beratung dieses Gesetzes die Argumentation der Kirchen ernst nehmen, dass wir sie noch einmal in die Anhörung einbeziehen. Ich schließe im Ergebnis dieser Beratung nicht aus, dass Mitglieder unserer Fraktion die Entscheidung über dieses Feiertagsgesetz im Rahmen der Möglichkeiten, die uns der Bundesgesetzgeber gegeben hat, zu einer Gewissensentscheidung machen, so dass ich über das Verhalten der Mitglieder der Fraktion zu dieser Frage hier und heute und vor Anhörung der Kirchen noch keine Auskunft geben kann. Ich empfehle aber eine gründliche Beratung.“
Der SPD-Fraktionsvorsitzende Rüdiger Fikentscher begann seine Rede mit der rhetorischen Frage: „Was haben der Buß- und Bettag und die Pflegeversicherung gemeinsam? […] Sie haben gemeinsam, dass sie beide den Arbeitgebern Geld kosten.“ Sachsen-Anhalt sah Fikentscher in einer „Zwickmühle“:
„Einerseits wollen wir nicht unbedingt einen Feiertag opfern, aber andererseits müssten wir den Arbeitnehmern eine doppelte Belastung aufbürden. Das möchten wir nicht. Wenn es denn so ist, dass nur fünf Feiertage im Jahr zur Verfügung stehen – so wie die Vereinbarung lautet –, dann ist es wohl im allgemeinen [sic!] unstrittig, dass man sich auf den Buß- und Bettag verständigt.“
Auf den beabsichtigten erhöhten Schutz des Buß- und Bettages eingehend, wurde Fikentscher grundsätzlich:
„Ich denke, man kann hier nicht von dem christlichen Gehalt herangehen und sagen, diejenigen, für die dieser Feiertag etwas bedeutet, sollten es anders sehen. Dann müsste man in einem überwiegend heidnischen Land auch an die Weihnachts- und Ostertage herangehen. Ich denke, dass ist nicht die Argumentation, sondern man muss sagen, es ist ein besonderer Tag mit einer besonderen Tradition, und man muss wenigstens den Teil zu retten versuchen, der zu retten ist. Deswegen ist es auf jeden Fall zu begrüßen, dass ein gewisser inhaltlicher Ausgleich die Besonderheit dieses Tages noch zu retten versucht.“
Abschließend äußerte auch er die Bereitschaft für weitere Beratungen, insbesondere mit den Kirchen, räumte aber ein: „Das letzte Wort ist noch nicht gesagt, wenngleich ich kaum einen Bewegungsspielraum für uns alle sehe.“
Der bündnisgrüne Fraktionsvorsitzende Hans-Jochen Tschiche stellte am Anfang seiner Rede fest: „Ob Feiertag streichen oder nicht streichen, letztendlich bezahlen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre Pflegeversicherung selber […].“ In gewohnt ironisierender Manier und mit (amts-) kirchenkritischen Anspielungen fuhr er fort:
„Dass nun der Buß- und Bettag daran glauben muss, hängt sicher mit den Bonner Frohnaturen zusammen. Der Buß- und Bettag ist ja ein relativ später Festtag der Kirchen, und noch dazu in Preußen erfunden. Da schon Adenauer der Meinung war, dass an der Elbe Sibirien beginnt, konnte man sich also nur auf diesen Tag einigen und nicht etwa auf den Himmelfahrtstag. Das hätte uns Magdeburgern manches erspart. Nur, denke ich, gäbe es da eine Männerlobby, die aufstehen würde, weil sie dann nicht mehr durch die Gegend fahren kann. Also bleibt nur der Buß- und Bettag übrig. Im übrigen [sic!] wäre der Verzicht auf den Buß- und Bettag auch der Beitrag der Kirchen zu dieser Lösung. Das müsste man auch noch einmal überlegen. Wenn denn die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sozusagen auf einen Tag verzichten müssen um der Gemeinschaft, um des Erhalts des Standorts Deutschland willen – und was man noch alles dazu sagen könnte –, müssten eigentlich die Kirchen auch einmal darüber nachdenken, ob ihre Politik vorrangig Besitzstandswahrung sein sollte. Manchmal habe ich diesen Eindruck, wenn ich an die Millionen denke, die wir bezahlen müssen. Auf der anderen Seite wäre es gerade für die Kirchen sehr wichtig, sozusagen in dieser unglaublich schwierigen Situation eine Rolle wahrzunehmen, die nach vorn gerichtet ist. Im Augenblick habe ich, muss ich ganz ehrlich gestehen, hier meine Schwierigkeiten. Nun gut, das Parlament ist nicht der Ort für die öffentliche Auseinandersetzung mit der von mir sehr geachteten Kirche.“
Nach den Ausschussberatungen fand am 15. Dezember 1994 die zweite Landtagsdebatte über den Gesetzentwurf zur Novellierung des Sonn- und Feiertagsgesetzes statt. Im Ausschuss selbst fand der Gesetzentwurf nur eine knappe Mehrheit: „Nach einer kurzen Feststellung der Standpunkte der einzelnen Fraktionen – pro Streichung durch die SPD, kontra Streichung durch die CDU und ein Sowohl-als-Auch durch die PDS – kam es zur Endabstimmung mit dem knappen Ergebnis von sechs Stimmen für den Entwurf des Gesetzes, fünf dagegen und zwei Enthaltungen.“
Manfred Püchel ergriff diesmal das Wort, äußerte „Verständnis für die Kirchen, das Sie mir wirklich unterstellen dürfen“, rechtfertigte anschließend aber die beabsichtigte Streichung des Buß- und Bettages, weil,
„wir den Arbeitnehmern zusätzlich zu ihrem Anteil an der Pflegeversicherung und bei allen weiteren Belastungen, die im Jahr 1995 auf sie zukommen werden, keine weiteren Belastungen zumuten können und deshalb nach den bundesgesetzlichen Vorgaben die Streichung des Feiertages beschließen müssen. Ich hoffe, dass sich auch die Abgeordneten der CDU den berechtigten Interessen der Arbeitnehmer mehrheitlich nicht verschließen und für die vorliegende Beschlussempfehlung stimmen. Für den einen oder anderen mag es sich hierbei um eine Gewissensentscheidung handeln, wofür die [sic!] ich großen Respekt habe. Für die übrigen sollte der auf Bundesebene ausgehandelte Pflegekompromiss, der im Grunde genommen den Ländern die Streichung eines Feiertages vorgibt, maßgeblich sein. […] Die neue Landesregierung hat sich den verständlichen Protesten der Kirchen gegen die Streichung eines Feiertages nicht verschlossen. Wir haben diesen zum Anlass genommen, den Buß- und Bettag weiterhin besonders als stillen Feiertag zu schützen. Dieser Vorschlag des Gesetzentwurfes der Landesregierung ist im Ausschuss auch unverändert geblieben. Ich bitte Sie, sich dieser vermittelnden Lösung anzuschließen.“
Für die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen ergriff diesmal Martina Bendler das Wort:
„Ein Tag, an dem in der Regel alle Familienmitglieder frei haben, fehlt dann. Auch ein Gottesdienst, der im besonderen Maße dem Nachdenken über Schuld und Umkehr gewidmet ist, muss vom Vormittag auf den Nachmittag verlegt werden. Aber es stimmt auch folgendes: In unserer Gesellschaft – damit meine ich in diesem Fall speziell die neuen Bundesländer – sind christliche und kirchliche Traditionen kaum noch verankert. Das hat Gründe. Diese Entwicklung kann aber meiner Meinung nach nicht durch einen Feiertag mehr oder weniger gestoppt werden. Es stimmt weiterhin: dass dieser Feiertag nicht in die Reihe der grundlegenden kirchlichen Feste gehört, sondern seinen Ursprung auch in einem handfesten obrigkeitsstaatlichen Interesse hat. Er wurde übrigens erst 1893 in den meisten evangelischen Landeskirchen eingeführt.“
Der CDU warf die bündnisgrüne Abgeordnete vor, es sei „scheinheilig, wenn die CDU-Fraktion in Sachsen-Anhalt es ablehnt, diese Suppe, die uns auch die Bundes-CDU mit eingerührt hat, mit auszulöffeln“. Für ihre Fraktion kündigte sie – „nicht leichten Herzens, aber nach Abwägung aller damit verbundenen Fragen“ – die Zustimmung zum Gesetzentwurf der Landesregierung an.
Der Christdemokrat Jürgen Scharf sah den Landtag an diesem 15. Dezember 1994 „im Begriff, eine schlechte Lösung für eine im Ansatz gute Sache zu beschließen“. Grundsätzlich hielt Scharf eine Kompensation gegen steigende Lohnnebenkosten für „durchaus sinnvoll“, allerdings wollte er auch nicht verhehlen:
„Die Geschichte der Suche nach einer Kompensationslösung ist eine Geschichte der Heuchelei. Alle großen Interessenvertreter hofften, dass ihre Klientel hierbei nicht betroffen sein wird. […] Die Gewerkschaften verschanzten sich hinter der Tarifautonomie. Auch die Einführung von Karenztagen oder die Streichung eines Urlaubstages wurde mit hehren verfassungsrechtlichen Argumentationslinien abgeschmettert. Über die Sache durfte nicht gesprochen werden. Und so manchem Gewerkschaftsfunktionär ist nicht zu vermitteln, dass ein Feiertag mehr als ein freier Tag ist. Urlaub hingegen ist nicht heilig. […] Die Arbeitgeber beschworen den Untergang des Wirtschaftsstandortes Deutschland. […] Und […] auch die Kirchen waren nicht besser. Die Kirchen hofften lange Zeit, sie kämen nicht dran. Sie verschliefen die Diskussion und dachten, sie brauchten sich nicht einzumischen. Dann war es zu spät. Nun sind die Tränen um so [sic!] heftiger, und nun sollen andere Leute die Kohlen aus dem Feuer holen. Man hat sich einfach zu spät gemeldet. […] Ich muss auch eines sagen: Alle mir vorliegenden Berechnungen über Kompensationen sind interessengeleitet und einfach teilweise manipuliert. Das ist so.“
Für seine Fraktion kündigte der Christdemokrat „ein sehr uneinheitliches Abstimmungsverhalten“ an, wobei der Pflegekompromiss an ihm persönlich „nicht scheitern“ werde, denn in seinen Augen sei die Streichung des Buß- und Bettages „hinnehmbar“. Grundsätzlich merkte Scharf jedoch auch noch an:
„[J]ede Begründung, dass dieser Tag eher entbehrlich sei als Himmelfahrt, Karfreitag, Ostermontag oder Pfingstmontag, ist in hohem Maße unaufrichtig. […] Was der vorgesehene Schutz bringen wird, der im Gesetz wohlmeinend formuliert ist, bleibt abzuwarten. Ich nehme an, er wird weitgehend leerlaufen. Die Anzahl der Personen, die hiervon Gebrauch machen werden, werden wir wahrscheinlich an wenigen Händen abzählen können. Es bleibt die Aufgabe, […] dass die Feiertage in Sachsen-Anhalt mit einer zum Teil sehr langen Tradition neu erschlossen werden müssen. Es droht sonst eine Kulturbarberei, die die gesamte Feiertagskultur und damit vielleicht auch die Identität in diesem Lande Sachsen-Anhalt nachhaltig gefährden kann. Es kann nicht sein, dass wir Jahr um Jahr einen Feiertag abschaffen und meinen, wir reden nur über Freizeit.“
Die von Scharf angekündigten Gegenstimmen aus den Reihen der CDU-Fraktion provozierten Roland Claus von der PDS. Auch wenn sich seine Fraktion „ausdrücklich gegen die Streichung des Buß- und Bettages ausgesprochen“ habe, befürchtete er nun „eine sächsische Lösung, wonach die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dann die Kosten für die Pflegeversicherung allein tragen würden“: „Für einen solchen Fall haben wir bereits angekündigt, dann im Sinne einer Schadensbegrenzung die Streichung eines Feiertages nicht zu verhindern.“ Erneut kritisierte er den Pflegekompromiss als „Nötigung durch den Bundestag“. Er hoffte,
„dass die Kirchen hier vor das Bundesverfassungsgericht ziehen. Es wird vielleicht auch ein bisschen glaubwürdiger, wenn die Kirchen vor dem Gericht um den Bußtag kämpften, als wenn es ausgerechnet die PDS täte, obwohl sie den Bußtag nach wie vor sehr nötig hat. […] Wir sehen diese Gefahr der Nötigung eines Landesparlamentes, und deshalb sage ich Ihnen, dass wir uns mehrheitlich nicht an dieser Abstimmung beteiligen werden.“
Der Sozialdemokrat Norbert Bischoff sah die Landtagsabgeordneten an jenem 15. Dezember 1994 vor die „Entscheidung zwischen zwei Übeln“ gestellt. Er äußerte sowohl Kritik als auch Verständnis für die Kirchen, die seines Erachtens zwar „zu spät reagiert, aber zu Recht darauf hingewiesen [haben; M.B.], dass bei der Einführung der zweiten Stufe der Pflegeversicherung nicht schon wieder an den Feiertagen herumgebastelt werden sollte. Dieser Einwurf ist berechtigt.“ Auch wegen der spezifisch ostdeutschen Geschichte des Buß- und Bettages fiele vielen
„die Entscheidung schwer, den Buß- und Bettag zu streichen, weil er für uns auch eine symbolische Bedeutung hat, zumindest für mich und einige andere. Denn er war der Abschluss der Friedensdekade in diesem Land, und die Friedensdekade hat wesentliche Impulse dafür gegeben, dass es zur Wende in der DDR und zu einer gesellschaftlichen Erneuerung gekommen ist. Also er hat für mich über den kirchlichen Sinn hinaus auch eine symbolische Bedeutung.“
Am Ende wurde der Gesetzentwurf bei „wenigen Enthaltungen und etlichen Gegenstimmen“ angenommen – und der Buß- und Bettag war tatsächlich 1994 letztmalig staatlich anerkannter Feiertag (nicht nur) in Sachsen-Anhalt.
Die Streichung war allerdings nicht das letzte Mal, dass der Buß- und Bettag in einem Gesetzgebungsvorhaben eine Rolle spielte. Anfang 2021 brachte die Landesregierung den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Sonn- und Feiertage und des Ladenöffnungszeitengesetzes Sachsen-Anhalt in den Landtag ein, der den 1994 noch gelobten zweifachen gesetzlichen Schutz des Buß- und Bettages in Paragraph 5 („Erhöhter Schutz“) und Paragraph 4 („Schutz der Gottesdienste“) des Feiertagsgesetzes zukünftig nicht mehr gewähren sollte. Die Landesregierung räumte diesbezüglich ein:
„Der ‚stille Buß- und Bettag‘ wird aufgegeben. Die Beibehaltung des erhöhten Schutzes an diesem Tag war der Versuch gewesen, die Wirkung der Aufhebung dieses Tages als ein Feiertag […] abzumildern. Dieser Versuch ist gescheitert; der Buß- und Bettag ist ein gewöhnlicher Werktag geworden. Es ist den Bürgern nicht mehr verständlich zu machen, dass zwar Industrieproduktion möglich ist, Verkaufsstellen geöffnet haben und der Lärm von Bauarbeiten gestattet ist, dagegen – beispielsweise – öffentliche Sportveranstaltungen untersagt sein sollen.“
Auch wenn dieser Gesetzentwurf 2021 der Diskontinuität zum Opfer fiel und zuvor nur einmal im Landtag beraten wurde, dürfte er doch einen lohnenswerten Blick auf mögliche Ideen und Absichten von Landesregierung und -verwaltung für die Zukunft des Sonn- und Feiertagsgesetzes in Sachsen-Anhalt offenbaren – und damit auch auf die weitere Zukunft des Buß- und Bettages.
Literatur und Quellen:
- Mayr, Anna: Sorry, Jesus, aber das rechnet sich nicht. Früher hatten am Buß- und Bettag alle frei. Dann wurde er zum Opfer eines politischen Kompromisses, in: Die Zeit, Nr. 46, 10.11.2022, S. 3.
- Landtag von Sachsen-Anhalt: Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Sonn- und Feiertage (Drs. 2/245) vom 26.10.1994.
- Landtag von Sachsen-Anhalt: Stenographischer Bericht 2/7 über die 7. Sitzung des Landtages von Sachsen-Anhalt am 3. November 1994.
- Landtag von Sachsen-Anhalt: Stenographischer Bericht 2/10 über die 10. Sitzung des Landtages von Sachsen-Anhalt am 15. Dezember 1994.
- Landtag von Sachsen-Anhalt: Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Sonn- und Feiertage und des Ladenöffnungszeitengesetzes Sachsen-Anhalt (Drs. 7/7119) vom 15.1.2021.
Zum Autor:
Mathias Bethke, Jahrgang 1984 und Politikwissenschaftler, arbeitet in der Landesverwaltung Sachsen-Anhalt.
Als externer Doktorand promoviert er am Lehrstuhl für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Nachhaltige Entwicklung der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Der Arbeitstitel der Dissertation lautet: „Die Religionspolitik im mehrheitlich konfessionslosen Lutherland Sachsen-Anhalt seit der Wiedervereinigung - eine Politikfeldanalyse“